24. September 2015


5 JAHRE GfdS LONDON


Vortrag im Foreign and Commonwealth Office London


Anlässlich des fünfjährigen Bestehens des GfdS-Zweigs London hat das Kulturreferat der Deutschen Botschaft in London einen Vortrag des Zweigvorsitzenden Dr. Falco Pfalzgraf vor führenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verschiedener britischer Ministerien organisiert. Der Vortrag fand am 24. September 2015 im Foreign and Commonwealth Office (Amt für Angelegenheiten des Auswärtigen und des Commonwealth) im Regierungsviertel Whitehall in London statt.

Vor dem eigentlichen Vortrag wurde zunächst mit der obligatorischen Tasse Tee begonnen, zu der Zoë Townsley, Verwaltungsangestellte der Abteilung British Indian Ocean Territory im Foreign and Commonwealth Office (FCO) einlud. Anwesend waren neben der Kulturattachée der deutschen Botschaft in London Charlotte Schwarzer (links auf dem Foto) und ihrer Stellvertreterin Dr. Susanne Frane (©Foto) auch Frau Zoë Townsley vom FCO (mittig auf dem Foto) und Dr. Falco Pfalzgraf von der GfdS London (rechts auf dem Foto).



Dem folgte der Festvortrag, der im Scott Room des FCO stattfand. Vor 25 Gästen begann Dr. Pfalzgraf mit einer ausführlichen Darstellung der GfdS und ihrer Arbeit, bevor er zum eigentlichen Vortrag mit dem Titel „Grillhähnchen versus Broiler: Deutsch vor und nach der Wiedervereinigung“ überleitete. Zwar ist dieses Thema sprachwissenschaftlich nicht unbedingt brandaktuell; es bot sich jedoch besonders deshalb an, weil das fünfjährige Bestehen des Londoner GfdS-Zweigs mit dem 25-jährigen Jubiläum der Deutschen Wiedervereinigung koinzidiert.

Der 45-minütige Vortrag stellte einen Überblick über die Forschungslage zu Sprachwandelprozessen von der Zeit des Mauerbaus 1961 bis zu den Jahren nach der Wende, nämlich etwa bis 2005, dar. Falco Pfalzgraf stützte sich dabei vor allem auf die Forschungsergebnisse von Kathrin Ballerstaedt, Manfred W. Hellmann und Ruth Reiher (Literaturangaben unten).

Nach einer kurzen Auffrischung wesentlicher Daten (Bizone, Trizone, Gründung der Bundesrepublik und der DDR, Mauerbau, Mauerfall und Wiedervereinigung) gab Dr. Pfalzgraf eine kurze Zusammenfassung der politischen Sprachdebatte: Bestand 1948/49 zunächst beiderseits noch Sorge um die Einheit der Sprache, wirft die Bundesrepublik der DDR nach dem Mauerbau vor, sie wolle nicht nur politisch, sondern auch sprachlich spalten. Eine These, die man jedoch in den späten 1960er Jahren wieder fallen lässt. 1969/70 behauptet Walter Ulbrich dann, dass die deutsche Sprache und Kultur sich in Auflösung befände – woraufhin die Bundesrepublik prompt das Gegenteil konstatiert. Hier zeigt sich beiderseits das während der Zeit des Kalten Krieges typisch-gegensätzliche Verhalten.

Ab den 1970er Jahren besteht die Bundesrepublik darauf, dass eine gemeinsame deutsche Nation, Kultur und Sprache existiert, währen die DDR die Existenz einer Sozialistischen Nation DDR, die unabhängig von der Bundesrepublik existiere, postuliert.

Betreffend die Folgejahre ist der beiderseitige Streit um den „wahren“ semantischen Gehalt der Wörter hervorzuheben: Was bedeutet Demokratie, Freiheit, Gleichheit, Frieden, Gerechtigkeit, und Solidarität? Beispiele aus dem Ost- und Westduden wurden gegeben und diskutiert.

Rückblickend wurde für die Zeit vor der Wiedervereinigung festgestellt, dass Syntax und Morphologie in beiden deutschen Staaten stabil waren und denselben langfristigen Wandlungstendenzen folgten, etwa: Verkürzung der Satzklammer, abnehmende Verwendung des Genitivs, Zunahme der Fremdwörter und der Abkürzungen, wobei letzteres etwas stärker im Vokabular der DDR ausgeprägt war.

Die wesentlichsten sprachlichen Unterschiede währen der deutschen Teilung betrafen die Lexik, also die Wortebene – und hier vor allem die Substantive. Dr. Pfalzgraf konzentrierte sich im Vortrag auf sechs Lexemspezifika, nämlich:

• Solche, die nur auf einer Seite existierten, z.B. Staatsrat, Volkskammer, VEB; versus Bundesrat, Bundestag, floaten, AG
• Solche, die nach 1945 auf einer Seite neu eingeführt wurden bzw. weggefallen waren, z.B. Beamter und Gymnasium versus Reichsbahn und Mitropa
• Solche, die propagandistischen Bedürfnissen dienten, z.B. friedliche Koexistenz versus Prager Frühling
• Die Bedeutungsvarianten, z.B. Freiheit, Demokratie, Fortschritt (die alle unterschiedlich definiert wurden, aber auf beiden Seiten positiv konnotiert waren) versus revolutionär, Planwirtschaft und Dissident (positiv in der DDR und negativ in der BRD konnotiert), Dissident (positiv in der BRD und negativ in der DDR konnotiert)
• Die Bedeutungsspezifika, wie Kaufhalle / Supermarkt, Plastik / Plast(e), Staatsangehörigkeit / Staatsbürgerschaft, Personalchef / Kaderleiter, Arbeitnehmer / Werktätiger, Warschauer Pakt / Warschauer Vertrag; dies auch mit propagandistischem Akzent, etwa: Mauer / Staatsgrenze West, Fluchthilfe / Menschenhandel, Profit / Gewinn, Konkurrenz(kampf) / Wettbewerb.
• Solche, die Politik, Ideologie und Propaganda betrafen; hier seien die bereits genannten Wörter Demokratie, Freiheit, Gleichheit, Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität nochmals genannt.

Sodann kam Dr. Pfalzgraf in seinem Vortrag zur Wende und der Zeit danach, wobei aus Zeitgründen leider nicht auf das „wendespezifische“ Vokabular eingegangen werden konnte.

Es kann konstatiert werden, dass DDR-Bürger z.B. durch das Fernsehen bereits vor der Wende Zugriff auf BRD-spezifisches Vokabular hatten. Auch kam es ab Mitte der 1980er Jahre zu einer vorsichtigen Liberalisierung in der DDR im Bereich Mode / Kleidung, und so z.B. zur Verwendung von Anglizismen, die auch in der Bundesrepublik verwendet wurden. Andererseits wurde DDR-spezifisches Vokabular teilweise durch die 1968er Studentenbewegung in der Bundesrepublik eingeführt. Dennoch gab es 1989 über zweitausend DDR-spezifische Wörter / Wendungen / Bedeutungen / Gebrauchsweisen, die in der Bundesrepublik nicht existierten, und die nur in DDR-spezifischen Zusammenhängen verwendet wurden. So kam es, dass Vokabellernen für Ostdeutsche unerlässlich war: Existierte in der DDR doch eine grundsätzlich andere Organisation des gesellschaftlichen Lebens und der sozialen Beziehungen, und erfolgte doch der gesellschaftliche Umbau im Osten gänzlich nach dem Muster des Westens. Zwei- bis dreitausend neue Wörter wurden von den ehemaligen DDR-BürgerInnen durchschnittlich zwischen 1990 und 1992 gelernt und aktiv verwendet. Sie betrafen unter anderem politische Institutionen, Ämter, Gesetze, Wirtschaftszweige, Produkte, Arbeit, Familie, Gesundheit, Frauen, Umweltschutz, und so weiter.

Hinzu kommt, dass es ab 1990 ein starkes Bestreben im Osten Deutschlands zu Um- bzw. Rückbenennungen von Eigennamen kam. So wurde in Dresden wurde jeder dritte Name im Stadtgebiet geändert. In einem gewissen Übereifer wurden auch solche Straßen, Plätze, usw. umbenannt, die Namen enthielten wie zum Beispiel Rosa Luxemburg, Berthold Brecht, Kurt Tucholsky, oder gar Thomas Mann.

Schließlich wurde heute noch ost-spezifisches Vokabular dargestellt und diskutiert, nämlich: Broiler (Grillhähnchen), Datsche (Grundstück mit Garten- oder Wochenendhaus), Feierabend- bzw. Veteranenheim (Senioren- bzw. Altersheim), territorial (regional), Kollektiv (Team), Dreiraumwohnung (Dreizimmerwohnung), Plastetüte (Plastiktüte), Flieger (Flugzeug), Betriebsauto (Firmenwagen), Thesenpapier (Handout), Grilletta (Hamburger), ablichten (kopieren) und die Jugendweihe.

Hierzu stellte sich hierbei die Frage, inwieweit diese Wörter tatsächlich noch im Osten Deutschlands verwendet werden, vor allem, was die jüngere Generation betrifft. Diesbezüglich ist festzuhalten, dass die letzten Fakten zu dieser Frage sich bei Ballersteadt (2004) finden, die sich auf Ergebnisse einer Umfrage unter Studenten aus dem Jahr 2002 bezieht. Diese Ergebnisse sind also „schon“ über 10 Jahre alt. Doch erfährt man bei Ballersteadt, dass in der Tat immer weniger junge Leute dieses ost-spezifische Vokabular benutzen. Mithin stellt sich die Frage, wieviel dieses Vokabulars endgültig aus dem Gebrauch verschwinden wird – und wann.

Dr. Pfalzgrafs Vortrag schloss mit Fragen zu selbigen, sowie mit einer kurzen Diskussion, bei der die anwesenden Ministerialbeamten großes Interesse am Thema und dem Forschungsgebiet, wie auch an der deutschen Sprachwissenschaft generell, zeigten.

Den Abschluss des Tages machte eine 45-minütige Führung durch das FCO, an der Kulturattachée Charlotte Schwarzer, ihre Stellvertreterin Dr. Susanne Frane und Dr. Falco Pfalzgraf teilnahmen, und die Zoë Townsley in informativ-unterhaltender Weise ganz typisch englisch gestaltete. Die aus der britischen Kolonialzeit stammende Gebäude beindrucken durch ihre prachtvolle Architektur und Ausstattung, insbesondere die Räumlichkeiten des ehemaligen India Office, seinerzeit ein Ministerium der britischen Regierung mit Zuständigkeit für alle Fragen der Verwaltung Britisch-Indiens. Besonders repräsentativ sind wohl der marmorne, voll verglaste Innenhof, sowie das „Grad Staircase“ mit seiner goldverzierten Kuppel. Aus Sicherheitsgründen konnten im Gebäudeinneren aber leider keine Fotos gemacht werde.

Der Londoner Zweig der GfdS bedankt sich ganz herzlich beim Foreign and Commonwealth Office und dem Kulturreferat der deutschen Botschaft in London, insbesondere bei Frau Dr. Frane und Frau Townsley für die Planung dieser Veranstaltung. Wir hoffen, zukünftig auch weiterhin mit beiden eng zusammenarbeiten zu können.

Literaturhinweise:
• Ballerstaedt, Kathrin (2004). „Auf dem Weg zur sprachlichen Einheit - Entwicklungen in Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung.“ Vor dem Karren der Ideologie. DDR-Deutsch und Deutsch in der DDR. Hg. Klaus Siewert. Münster: Waxmann. 317–329.
• Hellmann, Manfred W. (1980). „Deutsche Sprache in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik.“ Lexikon der Germanistischen Linguistik. Hg. Hans Peter Althaus, Helmut Henne, und Herbert Ernst Wiegand. Zweite, vollständig neu bearbeitete Auflage. Tübingen: Niemeyer. 519–527.
• Hellmann, Manfred W. (1990). „DDR-Sprachgebrauch nach der Wende - Eine erste Bestandsaufnahme.“ Muttersprache 100. 2-3: 266–286.
• Hellmann, Manfred W. (2000). „Divergenz und Konvergenz. Sprachlich-kommunikative Folgen der staatlichen Trennung und Vereinigung Deutschlands. Ein Überblick.” Die Deutsche Sprache zur Jahrtausendwende. Sprachkultur oder Sprachverfall?. Hg. Karin M Eichhoff-Cyrus und Rudolf Hoberg. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich: Dudenverlag. 247–175.
• Reiher, Ruth (1995). „Deutsch-Deutscher Sprachwandel.“ Sprache im Konflikt. Zur Rolle der Sprache in sozialen, politischen und militärischen Auseinandersetzungen. Hg. Ruth Reiher. Berlin / New York: de Gruyter. 232–243.
• Reiher, Ruth (1997). „Dreiraum- versus Dreizimmerwohnung.“ Der Deutschunterricht 1: 42–19.